Reine Zweckform: Studiotonarm Pickering 190 D
Tonarm Pickering 190 D auf dem Laufwerk Thorens TD 124.
Von Joachim Bung.
Pickering ist ursprünglich ein Hersteller von Tonabnehmern und Tonarmen für Schellack-Wiedergabe in Rundfunkstationen. 1950 kommt der lange Tonarm Pickering 190 speziell zum Abtasten der neuen Mikrorillen auf den Markt. Die Zweckform der 16-Zoll-Ausführung verrät die Herkunft aus der professionellen Studiotechnik – kein Tonarm also, der Frauen gefallen will. Auch private HiFi-Liebhaber tun sich mit der Gestalt des 190 schwer – vor allem wegen der fehlenden Kröpfung und des scheinbar nicht vorhandenen Tonkopfs. Statt vorn in ein elegant gestyltes Kopfgehäuse überzugehen, endet das nüchterne Vierkantprofil an dieser Stelle abrupt – als ob jemand es dort einfach abgesägt hat.
Allerdings hat der Pickering 190 im Inneren des Vierkantrohrs sehr wohl einen Tonkopf. Die Halterung ist schräg befestigt, was den bei Drehtonarmen erforderlichen Kröpfungswinkel gewährleistet. Der Arm besitzt für horizontale und vertikale Bewegung getrennte Drehpunkte. Das Lager für die Horizontalbewegung befindet sich wie üblich am Armsockel, das Lager für die Vertikalbewegung dagegen direkt hinter dem Tonkopf. Der Hauptteil des Tonarms lässt sich nur horizontal drehen. Der Kopf hingegen kann sich nur rauf und runter bewegen. Dank der besonderen Konstruktion reduziert sich die bewegte Masse für die Vertikalbewegung auf ein Minimum, was dem sicheren Abtasten selbst welligerer Schallplatten zu Gute kommt.
Die Auflagekraft am Tonkopf wird über eine lange Spiralfeder im Inneren des Profils reguliert – siehe Schaubild. Ihr Rändelrad ist von der Unterseite aus erreichbar. Der Arm hat einen magnetischen Ruheanschlag und bequeme Einlochbefestigung auf der Grundplatte. Verwunderlich für so einen langen Vertreter seiner Gattung ist der vom Hersteller genannte Tangentialfehler, der „weniger als ± 2,5 Grad“ betragen soll.
Konstruktion des Vorläufers Pickering 190 mit langem Gegengewicht – Abbildung aus meinem Werk SCHWEIZER PRÄZISION
„Der Pickering 190 hat sich im Studiobetrieb zu einer festen Größe entwickelt, an der Modelle der Konkurrenz gemessen werden müssen“, stellt bei der Einführung des Tonarms die US-Zeitschrift High Fidelity fest. „Bei ihm wurde kein einziger Kompromiss eingegangen, der das hohes Abtastvermögen und die Plattenschonung in Frage stellt. Die Armresonanz ist gut gedämpft; sie liegt außerhalb des Hörbereichs. Die Lagerreibung ist reduziert auf das technisch machbare Minimum. Der Tonarm ist statisch ausbalanciert und dadurch unempfindlich gegenüber Erschütterungen. Er arbeitet auch in Schräglage des Laufwerks korrekt. Gut gemacht, Mr. Pickering!“
Zugeständnis an den Amateurmarkt
Um dem Tonarm auch auf dem Amateurmarkt verkaufen zu können, überarbeitet Pickering 1954 sein Modell. Die 190 D genannte Ausführung baut kürzer und endet bei meinem Exemplar in einem fächerförmigen Gegengewicht. Auch keine Ausgeburt an Eleganz, doch immerhin lässt sich der Arm dadurch auch in einem knappen Schrankabteil installieren, in dem Plattenlaufwerke in den 1950er Jahren oft eingebaut waren. Pickering betont, dass der 190 D für das Abtasten von Vinyl- und Schellackplatten gleichermaßen geeignet ist. Und dass der Arm mit einem gegebenen Tonabnehmer angeblich 50 Prozent weniger Auflagedruck als vergleichbare Modelle anderer Hersteller benötigt.
Der auf meinem Thorens TD 124 (frühe Seriennummer 14302, Baujahr 1959) abgebildete Pickering 190 D ist „New Old Stock“. Er war zuvor noch nie benutzt worden. Mein Sparringspartner Peter Feldmann hat den Arm fachgerecht und mit minimalem Tangentialfehler auf ein maßgefertigtes Thorens-Brett montiert. Die geometrischen Daten des Pickering konnten wir der Tonarm-Datenbank der Webseite „Vinyl Engine“ entnehmen. Das Armbrett ist etwas schmaler als das breite Standardbrett und tut der Optik gut. Den Tonkopf versah der Techniker mit einem passenden historischen Shure M 77. Die Auflagekraft hat er auf zirka 6,5 Pond eingestellt. Das liegt etwas oberhalb des für diesen Tonabnehmer zulässigen Bereichs (4 – 6 p), ist aber noch tolerabel.
Tonkopf mit schräg eingebautem Tonabnehmer Shure M 77
Das Aufsetzen des Pickering-Tonarms auf die Schallplatte erfordert einige Übung und eine ruhige Hand. Zunächst ergreift man den Arm an seinem Vierkantrohr, löst ihn von dem Magnetstab und führt ihn nach links Richtung Plattenteller. Der Hebel mit „PC“-Logo dient dazu, den Tonabnehmer anzuheben, so dass man ihn über den Teller schwenken kann. Bedient wird er am besten mit dem Zeigefinger. An der gewünschten Stelle der Schallplatte lässt man am Hebel vorsichtig nach und senkt so die Abtastnadel in die Schallrille.
Moderne „audiophile“ Langspielplatten sollte man mit diesem „Prügel“ natürlich nicht abspielen. Doch für dicke, vor 1965 gepresste Monos, die noch den Hinweis „Staubfrei halten und mit nicht mehr als 10 Gramm Auflagekraft spielen“ auf der Hülle tragen, eignet sich der Pickering hervorragend. Glauben Sie’s mir – die alten Vinylschätze vertragen das!
Anzeige in einer US-Zeitschrift, 1951
Vielen Dank an Joachim Bung für diese tolle Story und die Fotos! Wer mehr zu dem Thema sehen will, schaut einfach mal weiter hier im Blog…
Haben Sie auch einen besonderen Tonarm, ein seltenes Laufwerk, einen außergewöhnlichen Tonabnehmer oder tolles Hifi Gerät? Senden Sie mir einfach ein Foto mit der Beschreibung zu, dann können es alle bewundern!