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H&F Exklusivinterview – Unter vier Augen mit…Christoph Ullrich

Lieber Herr Ullrich,

ich hatte die große Freude, zwei der Doppel CDs (Vol. 5 und 7) aus Ihrer Scarlatti besprechen zu dürfen (s.u.).

Ein großes auf mehrere Jahre angelegtes Werk. Alle 555 Cembalosonaten, eingespielt auf einem modernen Flügel beim TACET Label.

Wie kam es zu dieser Idee, die Sie ja auch unter enormen Druck setzt? 

Christoph Ullrich: Das ist eine einfache Geschichte: Ich glaube, dass es etwas mit den Lebensabschnitten zu tun hat, den „Stufen“, von denen Hermann Hesse in seinem bekanntesten Gedicht spricht. Nach einigen Krisenjahren habe ich mich an einem winterlichen Tag 2010 wieder nach langer Zeit mit Scarlattis Sonaten beschäftigt. Und da hat es einfach gefunkt. Das Schneetreiben, die kristallene Musik, mein wundervoller Flügel… Ich habe mir bald darauf eine Gesamtausgabe sämtlicher Sonaten bestellt und war mehr als überrascht, dass sich unter ihnen so wenig schwache Werke finden. Und auch diese hatten immer eine kleine Geschichte zu erzählen. Dieser Mensch und Komponist Scarlatti, seine vielseitige Musik, das hatte plötzlich alles sehr viel mit mir zu tun. So begann es. Ich vereinbarte einen Aufnahmetermin mit Andreas Spreer, der die Firma Tacet verkörpert, und konnte ihn prompt für die Idee begeistern, alle Sonaten bei seinem Label herauszubringen.

Welche besonderen Herausforderungen und Schwierigkeiten mussten Sie bisher meistern? Und welche davon waren Ihnen vorher nicht so bewusst?

Christoph Ullrich: Schwierigkeiten sind eigentlich Alltag im Musikerberuf. Die Sonaten erfordern eine besondere Art von Anschlag, eine übergroße Deutlichkeit der Diktion, schnelle und glitzernde Triller, alles verbunden mit einer großen Lebhaftigkeit und Sprunghaftigkeit. Scarlattis Geist sprüht immer. Er ist immer wach, er changiert immer zwischen Freude und Melancholie, er ist immer weit. Trotzdem: Man sollte bei einem solchen Unternehmen immer auf Sicht fahren, sich ausschließlich auf die als nächstes aufzunehmenden Sonaten konzentrieren, sich nicht beirren lassen durch Ängste und Verzagtheiten. Was wir – ich spreche von Andreas Spreer und mir – zwar unscharf ahnen konnten, was uns aber nicht in dem Sinne bewusst sein konnte, war unser eigener Lebensweg während dieser Musikreise. Ein Weg, der ja nie gradlinig, nie vorhersehbar verläuft. In meinem Fall spielte mir das Leben eine schwere Erkrankung, persönliche und familiäre Stolpersteine unterschiedlicher Größe, die Geburt einer Enkelin (als Geschenk!), die Coronakrise, den Krieg in Europa vor die Füße: Alles das wollten, konnten wir bei unserem Vorhaben nicht ausblenden. Es floss ein in dieses Projekt, auch wenn man es vermutlich nicht hörend entziffern kann.

In den Liner Notes zu Vol. 7 haben Sie geschrieben, dass die Musik Scarlattis heute in dieser nicht einfachen Zeit einen besonderen persönlichen Einfluss hatte. Was meinen Sie damit und welche meinen Sie?

Christoph Ullrich: Ich meinte seinen persönlichen Einfluss auf mich. Scarlatti war ein ungeheuer beweglicher Geist, ein frischer Wind weht durch seine Musik, eine starke Eigenständigkeit, eine für seine Zeit großartige Weite des Denkens und Fühlens. Das hat mich beeinflusst, das hat mir Klarheit über meinen eigenen Wunsch nach Weite gegeben.

Wie ist es, sich so lange und so intensiv mit dem Werk eines Komponisten und seinen Cembalosonaten zu beschäftigen? Scarlatti war sehr vielseitig tätig und hat ja viele verschiedene Kompositionen hinterlassen.

Christoph Ullrich: Zunächst: Die Cembalosonaten, die ich gerne Klaviersonaten nenne, da „Clavier“ damals ja ganz einfach für jede Art von Tasteninstrument stand, sind mit Abstand die persönlichsten, die kühnsten, die abwechslungsreichsten Kompositionen Scarlattis. Ohne sie wäre er wohl kaum ein so von seinen Fans verehrter und geliebter Komponist geworden. Sich mit diesem Riesenwerk über so viele Jahre intensiv zu beschäftigen ist wie das archäologische Freilegen  eines unterirdischen Palastes. Man kann nie wissen, was man im nächsten Raum entdecken, freilegen, zu altem Ganz bringen wird. Und dabei entsteht ein ganz eigenes Bild des „Erbauers“ in diesem Fall Domenico Scarlattis. Er steht plötzlich als Person neben mir, wir können miteinander kommunizieren.

Bitte nicht falsch verstehen, aber wird man nicht müde, so enorm viel Zeit und Arbeit in nur ein Projekt zu strecken, von dem Sie ja heute schon wissen, dass es noch 6 Jahre dauern wird?

Christoph Ullrich: Müdigkeit, Überdruss, das Gefühl der Zeitverschwendung: Das alles hatte ich natürlich in der geheimsten, hintersten Kammer meines Hirns befürchtet. Bisher ist dieses Gefühl zum Glück ausgeblieben. Was ich Domenico Scarlatti und seiner unerschöpflichen Fantasie zu verdanken habe. Aber auch dem Umstand, dass es eben keine Interpretationstradition seiner Musik gibt, zumindest keine kontinuierliche. Manchmal kommt es mir so vor, als seien die Noten gerade erst getrocknet, als röche die Tinte noch frisch.

Arbeiten Sie neben dem Scarlatti Projekt an weiteren Plänen? Was erwartet uns neben dieser Serie von Ihnen?

Christoph Ullrich: Ich möchte gerne das Gesamtwerk für Klavier von Franz Schubert bis zu seinem zweihundertsten Todestag 2028 einstudiert haben. Er ist auch einer dieser einsamen, gleichsam losgelösten Tondichter, die in ihrer Abgeschiedenheit, ihrer sonderlichen Lebenskonstruktion – wie Scarlatti auf seine Weise – exzeptionelle Klangwelten erfunden, gefunden, erforscht haben. Mit seinem Werk beschäftige ich mich neben meinem musikalischen Tagesgeschäft und Scarlatti besonders intensiv. 

Kommen wir auf Corona und die mittlerweile zweijährigen zum Teil enormen Einschränkungen gerade für Künstler:innen zu sprechen. Was hat diese Zeit mit Ihnen gemacht? Wie hat sich Ihr Leben verändert?

Christoph Ullrich: Oh, da machen Sie aber „ein Fass auf“! Ich glaube, dass diese Zeit, die die freischaffenden Bühnenkünstler wie singende Vögel im Flug getroffen und „abgeschossen“ hat, sehr tiefe Erfahrungen hinterlässt. Die beiden Jahre selbst waren wie eine Achterbahnfahrt, die einfach nicht enden will, ein einziger Alptraum. Aber das, was wir über unsere Mitmenschen, die Gesellschaft, unsere verlorene Position darinnen gelernt haben, das ist auch unschätzbar wertvoll. Was übrig bleibt, ist der Trotz, ein „Und dennoch“, ein „Jetzt erst recht“. Ich habe auf meinen Spaziergängen in diesen Jahren wieder und wieder eines meiner Lieblingsgedichte im Kopf rezitiert, „An sich“ von Paul Fleming, das so anfängt: „Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren…“

Die Beschränkungen sind zumindest aktuell zu einem großen Teil wieder aufgehoben. Was bedeutet das für Sie und Ihre Arbeit als Musiker? 

Christoph Ullrich: Na ja, es geht wieder los! Ich kann wieder das Projekt laterna musica, das Musik in Grundschulen bringt, weiterführen. Ich gebe wieder Konzerte. Aber alle wegen Corona zusätzlich aufgenommen Aufgaben, wie z.B. mehr Schüler unterrichten etc., das will man ja nicht aufgeben, da man nicht weiß, ob es im nächsten Herbst wieder mit den Einschränkungen losgeht. Und so arbeite ich mehr denn je in meinem Leben. 

Gehen Sie wieder auf Tournee? Wann können wir Sie endlich wieder live sehen und hören?

Christoph Ullrich: Mein nächstes größeres Konzert wird am 8. Mai in der Tonhalle Düsseldorf stattfinden.  Mit einem für mich sehr untypischen Stück: Dem 1. Klavierkonzert von Tschaikowsky. Daneben gibt es viele andere Auftritte im Frühjahr und Sommer, auf die ich mich sehr freue.

Der schreckliche Krieg in der Ukraine trifft uns alle sehr. Das Leid ist enorm und keiner weiß, was alles passieren wird und was nach einer hoffentlich bald stattfindenden Beendigung sein wird. Was bedeutet dieser Krieg für Sie?

Christoph Ullrich: Der Krieg zeigt mir, dass es Wichtigeres gibt als Musik. Musik kann trösten, erfreuen, bereichern, emotional und geistig bereichern, aber sie kann keinen Krieg beenden, sie kann keine Menschenleben retten. Der Krieg bedeutet für mich eine weitere, sehr traurige Erkenntnis: Man kann mit Engelszungen reden, man kann an Demos teilnehmen, alle Arten von friedlichen Aktionen durchführen: Der Akt der Gewalt ist stärker, er schafft eindeutige Fakten durch seine Zerstörungskraft. Das hatte ich vollkommen verdrängt. Oder blauäugig einfach übersehen. Eine sehr bittere Pille.

Wie immer am Ende meiner Interviews: Was möchten Sie den Leser:innen und Musikliebhaber:innen noch mitteilen?

Christoph Ullrich: Bleiben Sie wachsam. Bleiben Sie der Freude zugeneigt. Bleiben Sie im Herzen weit. Nur die Weite kann uns retten. (Das sage ich übrigens auch mir selbst Tag für Tag).  

Lieber Herr Ullrich, ich danke Ihnen sehr für das Interview und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg bei der Arbeit und der Produktion der Scarlatti-Serie. Ich werde natürlich weiterhin hier darüber berichten!

http://www.christophullrich.de/

https://www.tacet.de/main/seite1.php?language=de&filename=production.php&bestnr=02710

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