Mein Hörtipp: Abdullah Ibrahim: „Solotude“. Mit vielen Video- und Musikbeispielen
Abdullah Ibrahim gibt eigentlich jedes Jahr zu seinem Geburtstag ein Konzert. Aufgrund der Coronabeschränkungen war aber zum 86. Geburtstag des Pianisten am 09.10. 2020 „nur“ ein Solokonzert ohne Zuschauer:innen möglich. Auch wenn es nun vielleicht komisch klingen mag, meine ich, dass hier die Beschränkungen im Ergebnis zu etwas ganz großartigem geführt haben. Das Album „Solotude“ ist etwas wirklich ganz Besonderes. Es erscheint als CD und auf LP.
Der Konzertsaal des 500 Jahre alten Hirzinger-Hotels in Söllhuben, Riedering (im Landkreis Rosenheim) ist bekannt für seine wahrlich herausragende Akustik und somit war selbst unter den so lange schon währenden Beschränkungen ein Setting geschaffen worden, dass die Möglichkeit für einen wundervollen Abend geben konnte. Und es wurde einer.
20 eigene Kompositionen von und mit einem Musiker, der weit mehr ist, als nur „der bekannte Jazz-Pianist“. Der Südafrikaner Abdullah Ibrahim hat mit seiner Anti-Apartheid-Hymne „Mannenberg“ die inoffizielle Nationalhymne Südafrikas geschrieben. Kein Wunder, dass ihn Nelson Mandela bei seiner eigenen Amtseinführung als „unseren Mozart“ bezeichnete. Der japanische Kaiser verlieh ihm sogar im Frühjahr 2020 den „Orden der aufgehenden Sonne“ in Anerkennung seines Lebenswerks mit dem er die Menschen in Südafrika und der gesamten Welt durch seine besondere Musik emanzipiert hat.
Wer sein letztes Album kennt, 2019 erschienen unter dem Titel „The Balance“, kann hier eine weitere neue und doch irgendwie bekannte Seite dieses Ausnahmemusiker entdecken, der in seinem langen und intensiven Musikerleben übrigens u.a. mit Größen wie Duke Ellington, Max Roach, Ornette Coleman oder John Coltrane zusammengespielt hat.
„Solutude“ ist ein sehr persönliches Album geworden und der Titel ist „unterzeichnet“ mit dem zweiten Headlines: „My Journey, My Vision“
In den Liner Notes führt Abdullah Ibrahim aus:
Als ich 6 Jahre alt war spielte ich meinen ersten Ton auf dem Klavier mit dem Zeigefinger. Jetzt, 80 Jahre und 10 Finger später – eine Reise, die mich von Kapstadt in alle Ecken und Winkel der Welt führte – spielt der Zeigefinger unverhüllt sich selbst – die eine Note der universellen Einheit. Mein Urgroßvater zeigte mir mit seinem Zeigefinger die verborgene Kalahari-Traumzeit-Essenz der Pflanzen, Blumen, Tiere und Klänge der fernen Hügel. Ich war 6 Jahr jung.
Die 20 Songs sind in einer eher ruhigen Grundstimmung verfasst. Jeder Musiker weiß, dass es gerade die langsamen, die leisen, zarten Tönen sind, die im Ergebnis viel schwieriger zu spielen sind, als die schnellen, lauten, bei denen man sich leicht hinter einer Technik und Virtuosität verstecken kann. Wer mit ruhigen Tönen zu überzeugen weiß, braucht keine Effekthascherei. Aber nicht, dass hier der Eindruck entsteht, dass es sich um eine durchweg langsame Ausrichtung handelt, die Songs sind bereits in sich jeweils selbst enorm abwechslungsreich. Was Ibrahim hier abliefert, ist großartig, denn immer wieder sind es kurze rhythmische Parts, die sich mit zum Teil längeren Melodien von subtiler Schönheit abwechseln.
Ja, es sind Melodien von träumerischem Fluss, die plötzlich fast schon swingenden Parts gegenüberstehen. Ibrahim baut auf, schwelgt, wechselt und kehrt zurück zum ursprünglichen Thema. Einfachen aber nicht simpel!
Motive, die so gespielt werden, dass sie den Eindruck vermitteln, dass diese Stimmung, dieser musikalische Fluss so unendlich weiterfließen könnte. Das Feeling des ganzen Albums ist geprägt von einer großen inneren Ästhetik, die nur Musiker:innen zu erzeugen im Stande sind, deren Repertoire in gleichem Maße gefestigt ist, wie deren Lebens-Erfahrungen und ihre fundierten Kenntnissen in vielen verschiedenen Kunstformen.
Es gibt auf diesem Album so viele geradezu zauberhafte Momente, in denen man meint, die Gedanken des Künstlers fast schon hören, erfahren zu können.
Es gibt Passagen, in denen man als Zuhörer:in praktisch selbst die Melodie wird.
Es ist schwer in Wort zu fassen, aber vielleicht kennen Sie die Solokonzerte von Keith Jarrett. Neben den eigentlichen als Gesamtkunstwerk entstandenen phantastischen Soloimprovisationen, gibt es gerade bei ihm immer wieder kurze melodische Passagen von einprägsamer und fast überirdischer Schönheit. Nein, dieses Album hat keine solche kurzen und wohl in der Jazz-Soloklavierliteratur einmaligen Stellen, aber es hat viele längere Passagen oder gar ganze Songs, die sich „fast“ auf dem Niveau dieser wohl einmaligen „Jarrett Melodien“ befinden.
Diese Musik macht etwas mit einem…
Man denkt nicht nach, wenn man zuhört. Man denkt mit. Mit der Musik und den unmittelbar durch die Töne erzeugte Gefühle, die nicht auf einen einwirken, sondern zeitgleich in einem selbst entstehen. Nicht als Reaktion auf die Musik, sondern durch ein Erleben der Musik in Echtzeit. Sie trägt den Zuhörer und wie bei einer hervorragenden Improvisation ist es nicht das Handeln auf einen Impuls, sondern das Handel und ein Hören mit dem Impuls. Dem Impuls selbst.
Das ist große wahrlich Kunst und einer der besten Solo-Klaviereinspielungen, die ich jemals gehört habe.
Übrigens lebt Abdullah Ibrahim seit einigen Jahren im Chiemgau, wenn er nicht gerade wieder auf Tournee ist. Und so kommt zu der Weisheit, den unendlichen Erfahrungsschatz, die Erfahrungen und diese einfach bestehende Kompetenz auch noch die dortige unglaublich schöne Natur mit hinzu.
Ich meine auch diese in der Musik zu hören, wodurch sie eine weitere Empfindung in mir erzeugt, die mir persönlich so viel gibt: Frieden, begründet durch die überwältigenden Schönheit und Harmonie der Natur.
Alles in einer Aufnahme, die für mich schon heute einen Meilenstein darstellt. Einen, der nicht nur in Coronazeiten mit allen ihren Beschränkungen so deutlich macht, wie wichtig die Kunst für uns Menschen ist.
Überlebenswichtig.