Mein Hörtipp: Domenico Scarlatti, Complete Piano Sonatas, K. 177 – K. 205 mit Christoph Ullrich
Also meinen Respekt hat er schon länger, der Pianist Christoph Ullrich. Spätestens seit 2010, dem Zeitpunkt, als er erklärte, dass er tatsächlich alle 555 Cembalosonaten von Domenico Scarlatti auf einem modernen Steinway Flügel einspielen wolle. Dieser wurde, um der Musik auf dem Flügel im Sinne der Möglichkeiten eines Cembalos aus der Zeit der Erschaffung der Sonaten und der vom Komponisten gewählten Tonart in der Mitte des 18. Jahrhunderts, so nahe wie möglich zu kommen, in der sog. gleichstufigen Stimmung versetzt. Übrigens ist diese nicht mit der bekannten wohltemperierten Stimmung zu verwechseln, die u.a. durch Werke von J.S. Bach bekannt geworden ist. In dem auch hier wieder sehr gut gemachten Booklet der CD werden die weiteren Hintergründe ausführlich dargestellt.
Nun, Ullrich hatte sich also 2010 dazu entschlossen das gesamte Sonatenwerk einzuspielen, hat sich aber, was den wunderbaren Pianisten nur noch sympathischer macht, schon sehr bald eingestehen müssen, dass er die Tragweite seines Vorhabens wohl unterschätzt habe. Und es waren nicht die Technik, die hohen spielerischen Herausforderungen oder der schiere Zeitaufwand, es war die Erkenntnis, dass er nun wohl noch mal über viele Jahre „die Schulbank“ werde drücken müssen, beim Lehrer Domenico Scarlatti. Dieser hat Vorgaben definiert, die wirklich ungewöhnlich sind, denn bei ihm können sich Dynamik, Tempo, Artikulation Pausen oder die so wichtigen Anschlagstechniken in einem Höchstmaß immer wieder blitzschnell verändern. Die Cembalosonaten sind geprägt von einer enormen Variabilität. Deren damit verbunden immer neuen hohen Anforderungen an die Technik der Musiker:innen führen im Ergebnis fast schon zu einer Art Akrobatik, die in dieser Kraft und Stärke wohl erst später wieder, und zwar von Chopin oder Liszt, als neuer „Standard“ für solche technischen Höhenflüge wieder auflebten.
Wichtig bei Scarlatti ist aber insbesondere auch, dass er eine sehr hohe Durchhörbarkeit verlangt, was insbesondere die unmittelbare Klarheit der Aufführung betrifft. So sagt Ullrich selbst, dass es seiner Meinung nach nur bei Mozart eine ähnliche Forderung in dieser Ausprägung gebe. Und so gibt er sich mit großer Freude seinem großen Lehrmeister Scarlatti und seiner „Schule der Geläufigkeit“ gerne hin, und wird dies auch weiterhin tun, um sein Ziel der kompletten Einspielung zu erreichen.
Es ist erstaunlich, wie es Ullrich hier geschafft hat, die Musik dieses Genies in den historischen und individuellen kompositorischen Kontext zu fassen, den er hier als erforderlich und als Ergebnis seiner intensiven Beschäftigung damit ansieht. Seine Erfahrungen reichen mit Sicherheit dafür aus, umfasst seine Diskografie doch u.a. zahlreiche CDs mit Werken von J.S. Bach, Mozart und Schubert. Wunderbar übrigens seine Winterreise mit dem Bariton Matthias Horn.
Ok, seit 2001 spielt er nun also die Cembalosonaten von Scarlatti ein und legt hier in der Doppel-CD („Zum Preis von einer“) „Volume 5“ ein weiteres Werk auf seinem langen Weg der Gesamteinspielung vor, die schon jetzt mehrfach für anerkannte Preise nominiert wurden.
Die CD hat übrigens noch ein kleines Schmankerl, nämlich eine knapp 6:30 min lange Improvisation des Klarinettisten Ib Hausmann, die viel mehr ist, als eine Art Zugabe, zeigt sie doch die besondere Fähigkeit dieses Musikers, die Brücken zwischen Klassik und Moderne so wunderbar und leicht zu beschreiten.
Aufgenommen wurde die Doppel-CD in der bekannten Jesus-Christus-Kirche Dahlem auf einem großen und extrem klangstarken Steinway D 274. Produziert und aufgenommen vom großartigen du liebenswerten Musikliebhaber Andreas Spreer und seinem TACET Label. Damit ist dann auch gleich klar, dass es hier auch klanglich (wieder) ein herausragendes Ergebnis geben musste, denn das Label und Spreer stehen genau dafür. Seit vielen Jahren. Und die Zuhörer:innen werden nicht enttäuscht. Im Gegenteil: Die Aufnahme ist phantastisch und jederzeit in der Lage, den großen Flügel ohne die bei einem Steinway D 274 aufgrund seiner klanglichen Machtfülle nicht selten anzutreffenden „harte“ klangliche Wiedergabe der Töne, aufzuzeichnen und dennoch einfach richtig wiederzugeben.
Das Klangbild ist räumlich, sehr vom vollständigen Ein- und Ausschwingen der Saiten geprägt und, wie gesagt, es driftet nie in eine leichte Nervigkeit ab, die gerade bei Klavier-Solo-Einspielungen schnell passieren kann.
Und die Musik?
Nun: bei einer solchen Gesamteinspielung auf einzelne Sonaten besonders einzugehen, ist wohl müßig. Die vorliegenden CDs zeigen das auf, was Ullrich vor Jahren begonnen hat, und was ihn noch viele Jahre beschäftigen wird. Und das alles in der oben beschriebenen Herangehensweise. Ullrich sagt, dass ihm diese Musik unendlichen Reichtum schenke, und dem ist nichts hinzuzufügen, denn das sagt es eigentlich sehr gut. Diese Musik gibt den Zuhörer:nnen so unheimlich viel und gerade die sehr subtile Auseinandersetzung von Ullrich mit den Sonaten macht dies möglich. Seine so intensive Beschäftigung mit dem Werk Scarlattis hört man einfach. Viele tänzerischen Passagen mit zum Teil trillerartigen Tonfolgen und ein Verlieren in immer neue Quintenzirkel machen einfach Spaß und zeigen, meist jedoch erst beim zweiten konzentrierteren Zuhören deutlich, welche technischen und interpretatorischen Anforderungen hier „spielend leicht“ von Christoph Ullrich so souverän bewältigt werden. Und nur wenige Töne später schwelgt man in ruhigen von großen Melodienreichtum geprägte Passagen, die dann, manchmal fast schon ruckartig wieder in die klassischen Scarlatti Läufe wechseln.
Hier spielt nicht jemand ein paar Werke aus dem großen Katalog eines wundervollen Komponisten ein, hier legt ein Musiker sein ganzen Herz, sein Ich, offen. Er zeigt uns seine Sicht auf die Musik, seine Art diese zu verstehen, zu verinnerlichen und sie, seinen Vorstellungen entsprechend, den Zuhörer:innen zu präsentieren. Ein tief-emotionales Ergebnis eines Menschen und Musikers, der nicht nur die Werke selbst „spielt“, sondern quasi die gesamten in seine Werke einfließenden Kenntnisse und Gefühle Scarlattis in einen Tonträger für die Unendlichkeit zu bannen.
Wunderschöne Musik, um einfach nur zuzuhören, aber zugleich auch Musik, mit der man sich immer mehr und eindringlicher, tiefergehend befassen kann und bei der man mit jedem neuen Hören immer neue kleine Bravourstücke erfahren kann. Musik, die Spaß macht und dennoch so viel mehr sein kann, wenn man sich ihr wirklich öffnet. So wie Christoph Ullrich.
Hier spannende und unerwartete Tempowechsel und dort dann eine geradezu sprudelnde Dynamik und immer wieder die für Scarlatti so typischen fließenden und von sich tragender Schönheit geprägter Klavierläufe. Das ist wahre Poesie umgesetzt in Tönen.
Es bleibt zu hoffen, dass Christoph Ullrich sein Vorhaben vollenden wird und uns allen seine ganz persönliche Sicht der Cembalosonaten von Domenico Scarlatti für immer zur Verfügung stellen wird.
Diese Doppel-CD ist ein weiterer Meilenstein in einem ebensolchen Mammutwerk. Phantastische fast 140 min höchst anspruchsvoller und leidenschaftlicher Kompositionskunst, virtuos und mit erkennbar breitem und tiefem Personen- und Werkverständnis eingespielt und schlicht perfekt aufgezeichnet! Bravo!
Unbedingt anhören! Unten habe ich für Sie auch noch ein Video von Christoph Ullrich eingefügt, in dem er auch selbst zu seinem Scarlatti Projekt zu Worte kommt.
Tacet 267
Hier weitere Infos, u.a. zu Christoph Ullrich und Ib Hausmann: